Der große Physiker und Philosoph
wird neunzig
Ausschnitt aus einem Interview mit "Impuls" vom 15. Januar
2002
Impuls: "Die
Erde im Zusammenhang mit dem Ganzen verstehen", das wollten Sie bereits
als Kind. Später schloss dies für Sie konsequenterweise auch
politische, ökonomische und religiöse Aspekte mit ein. Was hat
sich an Ihrem Anspruch, sich zu bemühen, das Ganze zu denken, mit
dem Alter verändert?
C. F. v. Weizsäcker:
(Lacht.) Na ja, das ist ein hoher Anspruch. Ich kann das
vielleicht so schildern...
Als ich vier Jahre alt war, da lebten wir in Wilhelmshaven und meine Großeltern
lebten in Stuttgart. Wir sind oft mit der Eisenbahn hin und her gefahren,
und ich wollte damals Lokomotivführer werden, ich wollte die Landschaft
sehen. Dann, als ich sechs Jahre alt war, wollte ich Forschungsreisender
werden. Und als ich acht Jahre alt war, wollte ich Astronom werden, also
auch die Sterne kennen lernen. Diese Liebe zur Astronomie, die hatte ich
noch länger.
Als ich im Alter von elf Jahren anfing in der Bibel zu lesen, im Neuen
Testament, das mir geschenkt worden war, und die Bergpredigt las, empfand
ich, das ist eigentlich das Wichtigste und vielleicht sollte ich eher
Theologe werden, Pfarrer. Dann habe ich allerdings gesehen, das die Pfarrer
oft etwas spezialisiert sind. Ich hatte inzwischen entdeckt, ich sollte
mir doch nicht vorstellen, das ich das Glück habe, als einer der
Wenigen in die einzig wahre Religion geboren zu werden. Ich fand, ich
müsste die anderen Religionen auch kennen und gut verstehen lernen.
Ich bin dann später, als längst erwachsener Mensch, auch bei
den anderen Religionen gewesen. Ich bin in Indien gewesen und habe dort
die Hindu-Religion ziemlich gut kennen gelernt und habe mich angefreundet
mit dem Dalai Lama. Das alles war mir jedoch vom theologischen Studium
her nicht so plausibel gemacht worden. Und dann habe ich mich eher um
das gekümmert, was die Leute Philosophie nennen.
Aber nach wie vor wollte ich gerne die Verhältnisse in der Natur
gut kennen lernen. Eines Tages, mein Vater war in Kopenhagen an der Deutschen
Gesandtschaft als Diplomat und ich vielleicht vierzehn Jahre, da erzählte
meine Mutter: "Gestern abend waren wir bei einer Familie und dort
war ein junger Mann, der hat so wunderbar gut Klavier gespielt, mit dem
habe ich mich sehr gut unterhalten. Dann kam heraus, dass er von Beruf
nicht Musiker war, sondern Physiker und dass er bei diesem berühmten
Physiker hier in Kopenhagen, Niels Bohr, arbeitet." Da fragte ich:
"Wie heißt er denn?" Und sie sagte: "Er heißt
Heisenberg." Ich hatte gerade durch eine populäre Zeitschrift,
die meine Eltern mir gehalten haben, von den Schritten von Heisenberg
in der Quantenmechanik gelesen. Ich habe ihr dann befohlen, sie müsste
ihn einladen. So kam ich mit ihm zusammen. Und das hat mich dann bewogen,
nicht Philosophie, sondern Physik zu studieren. Er sagte mir: "Wenn
Du Philosophie verstehen willst, dann musst Du zuerst die konkreten Wissenschaften
verstehen."
Heute, so muss ich gestehen, kann ich das, was in der Physik geschieht,
nicht mehr so gut verfolgen. Ich werde nun neunzig Jahre alt. Meine Kraft
reicht dazu nicht mehr aus. Ich schaue jetzt natürlich mit Neugier
an, wie die nächste Bundestagswahl ausgeht. Aber ich kenne auch die
heute führenden Politiker persönlich kaum noch. In der Zeit
von Adenauer und von seinen Nachfolgern war ich mit den Politikern viel
zusammen. Jetzt bin ich im Ruhestand.
Impuls: Die Frage
des globalen Friedens hat Sie sehr beschäftigt. Hat sich Ihre Weltsicht
nach dem 11. September des vergangenen Jahres gewandelt?
C. F. v. Weizsäcker:
Ich würde eigentlich nicht sagen, dass sie sich gewandelt hat. Ich
weiß eben, dass Weltfriede eine Notwendigkeit ist und dass er schwer
durchzusetzen ist. Dieser 11. September hat wieder gezeigt, dass es Leute
gibt, die das noch nicht verstanden haben. Wenn ich mir ansehe, was heute
im Islam geschieht, dann würde ich sagen, der gewalttätige Fanatismus
ist nicht die eigentliche Wahrheit des Islams. Aber er ist doch eine heute
sehr verbreitete Sache.
Nach diesem Überfall auf New York am 11. September, der von einer
kleinen Gruppe gemacht war, hat der amerikanische Präsident die eigentümliche
Konsequenz gezogen, dass er Afghanistan den Krieg erklärt hat. Das
habe ich sehr bedauert. Er hätte natürlich irgend etwas tun
müssen, um dem zu begegnen, was da geschehen ist, aber eine Erklärung
des Kriegs an einen Staat war meiner Meinung nach nicht die richtige Konsequenz.
Die USA sind heute einfach die größte Weltmacht, und die müssten
das wahrscheinlich selber erst wirklich verstehen lernen...
Impuls: Angesichts
all dieser Probleme, was lässt Sie hoffen?
C. F. v. Weizsäcker:
Ich glaube letzten Endes doch, dass die Menschheit vielleicht einmal entdecken
wird, dass sie den Frieden wirklich braucht. Immerhin habe ich zwei Weltkriege
noch selbst miterlebt. Aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, an dem
ja der deutsche Diktator Hitler wesentlich Schuld war, haben sich De Gaulle
und Adenauer gefunden und sich darüber geeinigt, dass zwischen Deutschland
und Frankreich kein Krieg wieder sein soll. Und heute kann man sich einen
solchen Krieg kaum mehr vorstellen. Insofern hat es also Schritte der
Erkenntnis gegeben.
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